HOSEN HABEN RÖCKE AN
Künstlerinnengruppe Erfurt 1984-1994
»Wir haben uns als Gruppe frech gefühlt und als etwas Besonderes. Wir haben es genossen, nicht so langweilig zu sein wie der ganze Osten« – so Gabriele Stötzer über die Künstlerinnengruppe Erfurt.
Demokratischer Kollektivgedanke, betonte Prozesshaftigkeit, soziales Experiment mit gemeinschaftlichen Lebens- und Ausdrucksformen, feministische Standortbestimmung mit Selbstheilungsansatz und politischer Schärfe: All das vereinte die Künstlerinnengruppe Erfurt in Super-8-Filmen, Performances, Texten, Mode-Objekt-Shows, Manifesten, experimenteller Musik und Grafik. Der Zusammenschluss von Frauen mit dem einzigen Ziel, Kunst zu machen – ohne Kompromisse, ohne akademische Vorkenntnisse, ohne Angst vor sich selbst und vor äußeren Umständen in einer repressiven Diktatur – war ein einzigartiges Phänomen. Gerade die auch Anfang der 1980er Jahre noch immer einengenden Bedingungen der DDR beförderten die Selbstermächtigung der Frauen, ihre geradezu entfesselte und bedingungslose Gestaltungskraft.
Erstmals und umfassend präsentiert die Ausstellung Hosen haben Röcke an. Die Künstlerinnengruppe Erfurt 1984-1994 originale Materialien und Kostüme aus den Archiven der Akteurinnen. 1984 von Gabriele Stötzer gegründet, lebte die Künstlerinnengruppe zehn Jahre lang einen ebenso vehementen wie kreativen Gegenentwurf zum ideologisch geprägten DDR-Alltag aus. Mit den Mitteln der Kunst erkämpfte sich das rebellische Frauenkollektiv ein Höchstmaß an Autonomie, die es sonst unter den Bedingungen des autoritären Systems selten gab. Im Vergleich zu ähnlichen subversiven Gruppierungen trug sie ihren solidarischen Zusammenhalt und ihre künstlerischen Prioritäten über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Dabei repräsentierte die Gruppe eine für damalige Subkulturen charakteristische Heterotopie: Sie agierte unabhängig von Institutionen und verfügte über ein weites informelles Netzwerk in kulturellen sowie politisch oppositionellen Kreisen. Flexibel wechselten sie nicht nur die Schauplätze ihrer Aktionen, sondern auch ihren Namen.
Bezeichnend für die Künstlerinnen war ihre Weigerung, die DDR zu verlassen – obwohl damals viele Akteur_innen aus dem Kulturbereich aufgrund politischer Repression in die BRD ausreisten. Doch fand die Gruppe gerade im »Genius Loci« der Stadt Erfurt, speziell in deren mittelalterlicher Geschichte, ihre schöpferischen und spirituellen Impulse. Zudem eröffnete die gegenkulturelle Infrastruktur der evangelischen Kirche Thüringens neben Punks oder Friedensaktivist_innen auch der Künstlerinnengruppe weitere Entfaltungsräume. In diesem Umfeld kam den Frauen eine Pionier_innenrolle zu, mit ihrem bewussten Bezug auf weibliche Identität, Körperlichkeit und genderbasierter Systemkritik. Anfangs trafen sie sich zu Gesprächen über nonkonformistische oder feministische Literatur, über esoterisches Wissen und zu Fragen der sexuellen Befreiung. Doch schon bald entstanden kollektive Aktionen in einer eigenen, unverwechselbaren Bildsprache.
Ihre Themen spiegeln sich besonders in fünf experimentellen Super-8-Filmen wider, die zugleich die Grundstruktur der Ausstellung bilden. In den ab 1986 entstandenen Filmen und späteren Live-Performances mit literarischen und musikalischen Elementen stehen selbstgeschaffene und provokante Kostüme als Alter Egos der Künstlerinnen im Zentrum. Zahlreiche Modelle werden in der Ausstellung präsentiert, erstmals zusammen mit Objekten, Fotos, Drucksachen und Tonaufnahmen. Gemäß der basisdemokratischen Struktur der nGbK wurde dieses Ausstellungsprojekt von einer fünfköpfigen Projektgruppe realisiert. Dabei war es Gabriele Stötzer selbst, einst Initiatorin der Künstlerinnengruppe, die 2019 zu einer solchen Kooperationsstruktur anregte. Daraus ergab sich ein kollektives Modell, welches mit anregenden Diskussionen und Aushandlungen innerhalb einer Gruppe von Kuratorinnen durchaus an die damalige Konstellation der Künstlerinnen erinnert. Während einer etwa zweijährigen Vorbereitungsphase fanden zahlreiche Treffen, Gespräche und Sichtungen gemeinsam mit den Erfurter Aktivistinnen statt. Wie kann diese Fülle an Materialien und Erinnerungen aufbereitet werden? Sowohl für die Besucher_innen als auch für die Macherinnen dienen die Filme als »roter Faden«: An deren Stilistiken und Inhalten lässt sich nicht nur die Chronologie der Gruppenarbeit ablesen, sondern auch ihre mentale Topografie.
Die Ausstellung Hosen haben Röcke an stellt die künstlerischen Aspekte entschieden in den Vordergrund, will jedoch gleichzeitig zeigen, wie gerade das repressive Klima zu innovativen und phantasievollen Reaktionen führte. Die Risiken, denen sich die Künstlerinnengruppe aussetzte, formten ihr Schaffen genauso wie ihr vertrauensvolles soziales Miteinander.
Kuratiert von Susanne Altmann, Katalin Krasznahorkai, Christin Müller, Franziska Schmidt, Sonia Voss
nGbK Berlin
Monika Andres, Tely Büchner, Elke Carl, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Angelika Hummel, Verena Kyselka, Claudia Morca Bogenhardt, Bettina Neumann, Ingrid Plöttner, Marlies Schmidt, Gabriele Stötzer, Harriet Wollert
HOSEN HABEN RÖCKE AN. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994 [Bücher]
Komik – komisch [Texte]
Super-8-Szene [Texte]