"Das Alltägliche wächst hier durch die Neuverwendung des Materials ins Rätselhafte."
Über visuelle Ordnungen in den Werken von Christine Erhard
Die Frage nach dem Verhältnis von Realität und fotografischer Abbildung existiert seit der Erfindung des Mediums Fotografie. Meist ist damit die Detailtreue der Abbildung, die Nähe zum Bildgegenstand oder das Maß an Inszenierung gemeint und wird kritisch betrachtet. Christine Erhard hingegen erstellt ihre Bildsujets nicht mit dem Anspruch auf visuelle Kongruenz, sondern lotet das Verhältnis zwischen räumlichem Gefüge und seiner Abbildung mit Hilfe der Kamera aus. In ihren Arbeiten kollidieren fotografische Perspektiven miteinander, bildräumliche und grafische Elemente treten in einen Dialog. Auf diese Weise sucht sie nach einer Bildsprache, die unsere von digitalen Fotomassen und visuellen Brüchen geprägte Zeit spiegelt.
Die visuellen und gesellschaftlichen Brüche der Gegenwart rufen ähnlich markante Veränderungen in Erinnerung, die während der Industrialisierung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzten. Als technisches Medium unterlag die Fotografie zu dieser Zeit schon einmal einer vielschichtigen Transformation. Nicht nur die Kameratechnik, sondern auch ihr Einsatz und somit die fotografische Bildsprache veränderten sich radikal. Der Künstler László Moholy-Nagy benannte 1927 „die Problematik der heutigen optischen Gestaltung“2 nicht nur als Kernthema seines visionären Buchs „Malerei, Fotografie, Film“3, sondern auch als die prägende Frage der 1920er Jahre. Er sah die Möglichkeiten der Fotografie, die „Grenzen der Naturdarstellung“4 zu erweitern und „Licht als Gestaltungsfaktor“5 einzusetzen, als bisher verkanntes, aber entscheidendes Mittel für die Darstellung der Gegenwart.
Die zunehmende Mechanisierung führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Beschleunigung der Lebenswelten und einem verstärkten Bedürfnis, über aktuelle Ereignisse und Fragen der Gegenwart informiert zu werden.6 Gleichzeitig vereinfachten sich mit der Erfindung der Kleinbildkamera die Aufnahmebedingungen von Fotografien, die Entwicklung des Negativprozesses standardisierte die Laborarbeit. Dies führte zu einer rasant wachsenden Zahl von Amateurfotograf*innen ebenso wie von Zeitungen und Zeitschriften, in denen die berichtende Fotografie eine entscheidende Rolle spielte. An diese Entwicklungen anknüpfend suchten die Künstler*innen nach visuellen Entsprechungen des Wandels und machten sich dabei die Vereinfachung der fototechnischen Technik zunutze. Im so genannten „Neuen Sehen“ wurden traditionelle Perspektiven und Kompositionen gekippt und mit Lichteinsatz und Mehrfachbelichtungen experimentiert. Die neuen Darstellungsformen schlossen auch eine Öffnung des Entwicklungsprozesses und die Arbeit mit Fotoabzügen ein: Das Fotogramm, die Direkt- und Mehrfachbelichtung von fotoempfindlichem Material und die Collage erlebten ihre erste Blütezeit als ganz aktuelle Darstellungsformen ebenso, wie die Abstraktion eine erste Hochzeit erfuhr. Es entwickelte sich eine Bildsprache, die den veränderten Alltag während der Industrialisierung in einem neuen Licht erscheinen ließ und mit der Linearität in der Bildgestaltung gänzlich brach.
Im Zuge der Digitalisierung verändern sich die Bedingungen des öffentlichen und privaten Zusammenlebens ebenso wie der Arbeitswelt erneut tiefgreifend. Die Technikgebundenheit der Fotografie sorgt abermals für einen rasanten Wandel des Mediums. Mitte der 1990er Jahre wurde der Fotografie in ihrer bislang bekannten Form ein baldiges Ende vorhergesagt, auch wenn die analoge Fotografie noch eine ganze Weile genauso zum Einsatz kam wie ihr digitales Äquivalent. Inzwischen ist das Medium in seiner digitalen Form durchlässig geworden – Eingriffe in fotografische Bilder sind genauso alltäglich wie das Sampeln, Teilen und Liken von Fotografien. Fotografien sind alltägliches Kommunikationsmittel und existieren heute nur noch selten als Einzelbild. Stattdessen begegnen sie uns fast nur noch in vernetzter Form. Täglich wischen wir auf unserem Mobiltelefon durch unzählige fotografische Bilder oder scrollen uns am Computer durch die Unendlichkeit des Internets und meinen, diese Bildermassen in Sekundenbruchteilen verstehen zu können.
Inmitten des Bilderrausches des beginnenden 21. Jahrhunderts konzentriert sich Christine Erhard in ihrer künstlerischen Arbeit auf das Einzelbild. Sie stellt dem täglichen Kaleidoskop an visuellen Eindrücken eine Verdichtung entgegen, die das Auge der Betrachtenden herausfordert. Sie knüpft an Tendenzen der visuellen Ordnung der frühen 1920er Jahre an, indem sie die visuellen Brüche und das Spiel mit Perspektiven des „Neuen Sehens“ integriert. Zugleich folgt sie in ihrer Arbeitsweise der gegenwärtigen Tendenz, gefundenes Bildmaterial zu verarbeiten und analoge und digitale Mittel differenziert einzusetzen. Wie funktioniert die „optische Gestaltung“7 in den Bildern von Christine Erhard? Wie setzt sie die Fotografie als produktives Arbeitsmittel ein?
Beim Betrachten der Werke Christine Erhards fallen die Schichtungen der Bildelemente ins Auge. Fragmente von Architekturen gehen hier eine Verbindung mit abstrakten Formen wie Farbflächen und Linien ein. Für ihre Kompositionen greift die Künstlerin auf einen reichen Bilderfundus zurück, in dem sich neben Architekturaufnahmen auch Werke der bildenden Kunst, insbesondere der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, und der brutalistischen Architektur der 1960er und 1970er Jahre befinden. Ganz im Geiste Joachim Schmids, der bereits 1987 postulierte: „Keine neuen Fotos, bevor die alten aufgebraucht sind“8, verarbeitet Christine Erhard das gesammelte Bildmaterial für ihr eigenes Werk. Statt jedoch Bilder anderer Bildautor*innen neu zu editieren, wie es derzeit verbreitete künstlerische Praxis ist, nimmt sich Erhard der gefundenen Kompositionen an und transformiert diese.
In ihrem Arbeitsprozess kommt Christine Erhard ihr Studium in der Klasse für Bildhauerei bei Fritz Schwegler in Düsseldorf ebenso zugute wie die optischen Bedingungen der Fotokamera. Ihre Bilder entstehen in einem Prozess, bei dem sie die Eigengesetzlichkeit der Strukturen der gefundenen Bildkompositionen und der Abbildungen architektonischer Räume analysiert. Dabei ist es unerheblich, ob in ihren Werken etwa Kompositionen von László Moholy-Nagy oder Ljubow Popova enthalten sind oder Ansichten des Stadttheaters Ingolstadt, eines Supermarkts in Frankreich oder das Atelier von Erwin Heerich. Erhard führt die ausgewählten Bilder zusammen, übersetzt sie in eine Zeichnung und dann in ein skulpturales Modell. Mit Karton, Buntpapier, Dachlatten, Farbe, Licht, Glas und weiteren Utensilien baut sie aufwendige Konstruktionen, die sie anschließend fotografiert. Verblüffend ist, dass alles, was wir in den Bildern von Erhard sehen, eben nicht digital zusammengesetzt wurde, sondern sich genau so vor ihrer Kamera befunden hat. Die technischen Bedingungen des Fotoapparates ermöglichen diese visuellen Ordnungen und bestimmen im gesamten Prozess der Bildentstehung die Übersetzung der künstlerischen Idee. Mit der fotografischen Transformation von dreidimensionalen Objekten in ein zweidimensionales Bild ist eine perspektivische Verzerrung verbunden. Erhard setzt diese produktiv ein und stellt so im Bild optische Verbindungen her, lässt diverse Bildelemente miteinander verschmelzen oder hebelt scheinbar die Gesetze der Schwerkraft aus. Die Kamera wird erst ausgelöst, wenn sämtliche Bildelemente fein austariert sind. Die vollständige Ausrichtung auf die Perspektive der Kamera dehnt auch den Moment der fotografischen Aufnahme. Auch wenn die Aufnahme selbst nur einen Bruchteil von Sekunden dauert, beginnt der fotografische Prozess bereits mit dem Aufbau der Bildelemente.
Diese prozesshafte Arbeitsweise ist eine ausgeklügelte Antwort auf Roland Barthes vielzitierten Satz: „Es-ist-so-gewesen.“9 Während Barthes die Fotografie als Medium der Erinnerung an eine reale Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreibt, erweitert sich im Werk von Erhard die Vorstellung des Aufnahmezeitraums ebenso, wie das „so-gewesen“ in einem neuen Licht erscheint. Genau genommen müsste es heißen: Aus der Perspektive der Kamera ist es so gewesen. Bereits eine kleine Verschiebung würde Erhards Konstruktionen optisch auseinanderfallen lassen.
Motivisch konzentriert sich Christine Erhard auf das Verhältnis von Bild und Raum sowie deren visuelle Vermittlung. Ein Teil ihrer Werke zeigt Ausschnitte von Innenräumen, in denen Ecken, Fenster oder Türen Tiefe erzeugen und die auf Abbildungen von Raumsituationen beruhen. Die räumliche Einrichtung überlagert Erhard mit Linien und Flächen, die das Bild strukturieren. Beim genauen Hinschauen stellt sich etwa heraus, dass eine scheinbar durchgehende weiße Linie in Wirklichkeit aus mehreren Teilstücken besteht, die noch dazu mit verschiedenen Materialien erzeugt wurden. Weitere realistisch erscheinende Bildteile sind in Wahrheit verzerrte Fotografien oder auch selbst entworfene Mustertapeten, die die Künstlerin auf den Oberflächen ihrer Modelle aufgebracht hat. In anderen Werken sind Abbildungen oder im Studio gebaute Gebäude oder Architekturelemente bildbestimmend. Auch in diesen greift Erhard mit Überlagerungen in die Strukturen der ausgewählten Architekturen ein und stellt so deren Charakteristik heraus.
In einem Teil der Bilder baut Erhard ziemlich humorvoll Gebäude aus ihrem Bilderfundus nach. Da geben sich Brückenpfeiler bei genauerer Betrachtung als Tischbeine zu erkennen, sind Teller Vorplätze von Hochhäusern und der Bildhintergrund wird von Büchern oder Heizkörpern zu einer dichten urbanen Struktur aufgefüllt. In einer dritten Werkgruppe kommt der fotografische Bildkörper selbst zum Vorschein. Als rechteckige Fläche, aufwendig gefaltet oder auf einem amorphen Bildträger erscheinen auch hier Architekturen. Die Bildflächen sind in ein Arrangement von Farben und Formen wie in einem konstruktivistischen Stillleben eingebettet.
In Ausstellungen geht Christine Erhard mit ihren Arbeiten noch einen Schritt weiter. Aus den Werken heraus wachsen die Bildelemente in den Ausstellungsraum hinein, wenn sich etwa Farbflächen oder Mustertapeten aus den Bildern an den Ausstellungswänden wiederholen oder skulpturale Holzkonstruktionen das zweidimensionale Bild installativ im Realraum fortführen. In der fotografischen Abbildung solcher Werkpräsentationen ist zuweilen unklar, wo das zweidimensionale Bild endet und seine skulpturale Erweiterung beginnt, ob es sich um ein Werk oder eine Installationsansicht handelt. Auf diese Weise setzt die Künstlerin eine vielschichtige Rezeptionserfahrung in Gang: „Durch die Vermischung von Realraum und gebautem Raum kann der Blick zwischen der Seherwartung und dem tatsächlichen Bild hin und her wandern.“10
Die im Titel zitierte Beschreibung1 von László Moholy-Nagy gehört zu einem Fotogramm von Man Ray, auf dem eine Hand und ein Ei zu sehen sind – durch die verwendete Technik erscheinen diese eher banalen Bildgegenstände als weiße Schatten. Christine Erhard hingegen verzahnt die Materialien ihrer skulpturalen Modelle vor der Kamera zu komplexen räumlichen Zusammenhängen. Sowohl in den Fotogrammen von Man Ray als auch in den Werken von Christine Erhard löst sich durch die Bildgestaltung die Gegenständlichkeit hin zur Abstraktion auf – abhängig davon, auf welche Realitäts- und Reflexionsebenen wir uns beim Betrachten einlassen. Als Betrachter*innen müssen wir uns in den Bildern und in deren Verhältnis zum Raum erst einmal orientieren. Einerseits betrachten wir das Alltägliche mit anderen Augen, andererseits vermittelt sich das Potenzial der Dinge, räumliche Strukturen zu erzeugen. Damit geht ein spannungsreiches Schwanken unserer Wahrnehmung einher. Unser Blick wird in solchen Bildern aufgefordert sich neu auszurichten, aktiv zu bleiben und vor allem in ein längeres Zwiegespräch mit einzelnen Werken zu treten.
1 ↩ László Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film, 1927, S. 75.
2 ↩ Ebd., S. 5.
3 ↩ Ebd., S. 5.
4 ↩ Ebd., S. 5.
5 ↩ Ebd., S. 5.
6 ↩ Vgl. Lucia Moholy: A Hundred Years of Photography 1839-1939.
7 ↩ László Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film, 1927, S.5.
8 ↩ Joachim Schmid: „Keine neuen Fotos bevor die alten aufgebraucht sind“, in: Hohe und niedere Fotografie. Begleitheft zur Ausstellung Rhenania, Köln 1988, S. 21-26, zitiert nach: http://www.fotomanifeste.de/manifeste/1987-schmid-keineneuenfotosbisdiealten [zuletzt aufgerufen am 11.03.2022]
9 ↩ Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 87.
10 ↩ Christine Erhard im Interview mit Mark Peschke: "Ich will das Bild der Realität nicht deckungsgleich wiedergeben …", in: https://www.christineerhard.de/texte.html [zuletzt aufgerufen am 11.03.2022]