Christin Müller
☰   Texte EN

In die Fotografie einsteigen

Ein Blick zurück nach vorn auf künstlerische Interventionen in die analoge Fotografie seit dem 19. Jahrhundert.

Digitale Fotografien werden häufig als flüssig oder fluide beschrieben. Ihre wesentliche Eigenschaft ist die sekundenschnelle Migration zwischen diversen Formaten, Geräten, Orten und Personen. In ihrer Materialität sind digitale Bilder nicht fest.1 Anders als analoge Aufnahmen sind sie nicht an einen Träger gebunden, sondern entsprechen zunächst nur einer Kette von Nullen und Einsen. Die Fluidität der digitalen Fotografie vereinfacht und verändert den Gebrauch fotografischer Bilder im Vergleich zu ihrer analogen Urform. Nicht zuletzt, weil wir mit dem Smartphone immer eine Kamera dabei haben, potenziert sich ihre Menge ins Unendliche. Wir teilen, liken, sharen und sampeln mit Leichtigkeit unzählige Bilder. Im Strudel der Bildermassen, die auf öffentlichen und privaten Kanälen auf uns einströmen, wird es immer schwieriger, die Fotografie als Medium zu fassen. Fotografien sind schon lange nicht mehr nur Abbild oder Fenster zur Welt, sondern wichtiges Kommunikationsinstrument und Mittel zur Konstruktion von Ereignissen und Identitäten. Trotz der vollständigen Verdrängung der analogen Fotografie im Alltag, erlebt sie in der künstlerischen Nutzung seit ein paar Jahren eine beeindruckende Renaissance. Warum ist das so? Wie beschäftigen sich die Fotograf*innen und Künstler*innen mit den analogen Eigenschaften des Mediums? Ist das als anachronistisch zu bewerten oder sollte eher von einem veränderten Einsatz der analogen Fotografie gesprochen werden?

Die digitalen Medien haben die Betrachtung der Fotografie in analoger Form verändert. Mit Blick auf die Geschichte der Fotografie zeigt sich, dass sich Fotograf*innen und Künstler*innen an dem Medium der Fotografie abgearbeitet haben, lange bevor die Zuschreibung analog vorgenommen wurde. Wie keine andere künstlerische Form sind die, auf der Aufzeichnung von Licht basierenden Medien Fotografie und Film an die technischen Möglichkeiten ihrer Zeit gebunden. Die Bildautor*innen feilen aufgrund dessen nicht nur an der technischen Präzision der Abbildung, sondern verschieben auch die Parameter der Bildentstehung und greifen performativ in Fotografie und Film ein. Mitte des 19. Jahrhunderts widmeten sich die Fotopioniere zunächst der Verbesserung der natürlichen Darstellung. Bei den frühen fotografischen Verfahren waren neben der detaillierten Entsprechung des Fotografierten insbesondere die ausgewogene Übersetzung von Farben in Grauwerte und die Erhöhung der Lichtempfindlichkeit des Fotomaterials die großen Herausforderungen des Mediums. Aufgrund der langen Belichtungszeiten mussten die Personen vor der Kamera erstarren. Die Veränderungen der Helligkeit und des Kontrasts einzelner Farbwerte entsprachen nicht der natürlichen Wahrnehmung und verschob zuweilen die visuelle Erscheinung des Abgebildeten massiv. Auch das verwendete Material zur Aufnahme (schwere Großformatkameras, Papier bzw. Glasnegative, Art und Qualität der verwendeten Chemikalien) beeinflussten das Bildergebnis entscheidend.2 Mit einer Vielzahl fotografischer Verfahren versuchten die Fotograf*innen den Darstellungsfehlern entgegenzuwirken. Die Fotografie war zu dieser Zeit Experimentierfeld für Wissenschaft und Kunst. Während die Wissenschaftler*innen eine hohe Präzision der Abbildung anstrebten und gegen die schwer zu kontrollierende Eigendynamik des Mediums arbeiteten, machten sich die Künstler*innen genau diese zunutze. Sie wählten die technischen Parameter nach bildnerischen Vorlieben und Motiv. So entschied sich Julia Margaret Cameron für ihre in den 1860ern entstandenen Portraits für Unschärfe als Gestaltungsmittel, als technisch längst eine detailgetreuere Abbildung möglich war.3 Nie war die Bandbereite an Verfahren größer und die Fotografie in technischer Hinsicht offener als in dieser Frühzeit des Mediums.

Mit der Entwicklung kleinerer und leichter zu bedienender Kameras und der Etablierung von Standards für Technik und Abzüge Anfang des 20. Jahrhunderts begann das Neue Sehen. Bis dahin waren die Fotokameras große schwere Holzkästen. Fotonegative wurden durch den Auftrag einer lichtempfindlichen Schicht auf Papier oder Glasplatten hergestellt und mussten direkt nach der Belichtung entwickelt werden. Die nun erfolgten, technischen Vereinfachungen gaben den Bildautor*innen mehr Freiheit und Spielraum im fotografischen Ausdruck. Mit gekippten Perspektiven und dynamischer Bildgestaltung arbeiteten sie gegen die statischen Aufnahmen des 19. Jahrhunderts an. Eine neue Bildvorstellung entwickelte sich, die der beschleunigten Lebensrealität in der Industrialisierung visuell Rechnung zollte. Visionär experimentierte etwa László Moholy-Nagy mit dem Medium. Er widmete sich nicht nur künstlerisch der kameralosen Fotografie – dem sogenannten Fotogramm, sondern sprach bereits 1928 von der Bedeutung der visuellen Sprache: „nicht der schrift-, sondern der fotogafieunkundige wird der analfabet der zukunft sein.“4 Moholy und seine Zeitgenossen arbeiteten mit der Fotografie an einer neuen visuellen Sprache, wie der geistige und gesellschaftliche Aufbruch der Moderne zukunftsweisend sein sollte.

Ein nächster Bruch fand in den 1960er und 70er Jahren statt. Als Konzeptkünstler*innen mit den konventionellen Kunstformen brachen und die Fotografie als Kunstform in die Museen drängte, nahmen die Fotograf*innen ihr Medium erneut kritisch in Augenschein. Die zentralen Parameter der Fotografie gerieten in dieser Zeit in den Fokus: die Aufnahmebedingungen, die Perspektive der Kamera und die Rezeption von Fotografien. Anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es den Bildautor*innen nun um ein Nachdenken über die Bedeutungserzeugung und Macht von Fotografien. Viele der Arbeiten haben sprechende Titel, mit denen bereits viel über die verfolgten Interessen gesagt ist: Ugo Mulas untersuchte mit seiner Arbeit Verifiche zwischen 1970 und 1972 grundlegende Bedingungen der Fotografie in einer Serie aus 14 kleinen Bildgruppen (von denen er nur zwölf realisierte). Gewidmet hat er diese Verifizierungen jeweils einem Fotografen oder Künstler und parabelhaft einzelne Aspekte der Fotografie untersucht, wie etwa #4: L'uso della fotografia. Ai fratelli Alinari [Der Gebrauch der Fotografie. Den Gebrüdern Alinari gewidmet] oder #6: L'ingrandimento dalla mina finestra ricordando la finestra di Gras [Die Vergrößerung. Der Blick aus dem Fenster in Erinnerung an das Fenster in Gras5]. Zur gleichen Zeit, von 1968 bis 1974, arbeitete Timm Rautert an seiner umfassenden Werkgruppe der Bildanalytischen Fotografie, die den Charakter von Versuchsexperimenten hat: Die Arbeit 2/10s-9/10s besteht etwa aus einer Belichtungsreihe, bei der acht Fotopapiere in der im Titel angegeben Zeit belichtet wurden und verweist so in abstrahierter Form auf den Einfluss der Lichtregulierung bei der Bildgestaltung. Andere Arbeiten aus der Werkgruppe beschreiben protokollartig, wie es zu dem Bildergebnis kam, zum Beispiel: Kontakt eines zur Hälfte belichteten Negativs. Kassette halb aufgezogen, nach 2 Sek. (gezählt 21, 22) wieder geschlossen, 14.06.71, 14 Uhr, Tageslicht, bedeckt. In weiteren Arbeiten benennt Rautert mit aufgedruckten Worten das Fotografierte oder eine fotografierte Fotografie im Bild, um aufzuzeigen, dass man auf eine Fotografie schaut und nicht in die reale Welt. Auch John Hilliard befragte Anfang der 1970er Jahre die konstitutiven Bedingungen des Mediums: Mit einem selektiven Fokus in Untitled (She Observed Her Reflection in the Glass) lenkt er beispielsweise die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Bild- und Bedeutungsebenen und zeigt in Cause of Death, wie einfach wechselnde Ausschnitte die Wahrnehmung des Fotografierten steuern.

1992 benannte William J. Mitchell in seinem Buch The Reconfigured Eye6 erstmals den Unterschied zwischen fotochemisch und digital erzeugten Bildern auf und führte den Begriff der analogen Fotografie in Abgrenzung zu digitalen Bildern ein. Zeitgleich erklärten Theoretiker*innen und Künstler*innen die Fotografie für tot. Bis in die frühen 2000er Jahre hielt sich die Annahme, dass der Einfluss der neuen Medien die Fotografie in der bisher gekannten Form verdrängen würde.7 Die Ausstellung Fotografie nach der Fotografie stellte daran anknüpfend 1996 Bildstrategien des Computerzeitalters und die neuen Bilder vor, die dieses mit sich brachte. Das Ende der Fotografie ist nicht eingetreten, weder in digitaler noch analoger Form, vielmehr ist aus der schon in den 1920ern benannten Bilderflut ein Bilder-Tsunami geworden. Im Angesicht der Schnelligkeit und Masse der digitalen Fotografie erscheint die wiedererblühende analoge Nutzung des Mediums im Bereich der Kunst wie eine Vollbremsung auf freier Fahrt. In einer Zeit des visuellen Rauschs in den sozialen Medien, der Fake News und der Konfrontation mit Fotoarchiven, die nach der Digitalisierung in materieller Form überflüssig werden, ist die Arbeit mit analoger Fotografie jedoch ein Mittel zum Nachdenken über die Tragweite des Bildbegriffs und unsere Bilderwelt. Anders als ihre Vorgänger*innen, die die fotografischen Abbildung perfektionierten, neue, visuelle Sprachen suchten und die Funktionsweise des Mediums analysierten, verfolgen Künstler*innen gegenwärtig einen sehr unmittelbaren Zugriff auf die Fotografie. Sie steigen dabei sprichwörtlich in das analoge Material ein, um einen neuen Umgang mit den Grundelementen der analogen Fotografie – Licht, Chemie und Material – zu etablieren. Dadurch weiten sich nicht nur die bisherigen Grenzen des Mediums, es wird auch in vielerlei Hinsicht flexibler.

Der Körper der Fotografie bekam mit der Digitalisierung eine neue Aufmerksamkeit. Häufig vergessen wir die Bildträger beim Betrachten von Fotografien und sehen lediglich das Motiv. Das Trägermaterial wird oftmals erst wahrgenommen, wenn es in irgendeiner Form beschädigt ist oder herausgestellt wird. Der künstlerische Einstieg in die Fotografie erfolgt gegenwärtig genau an dieser Stelle: in der Arbeit mit dem Bildträger, an dessen Beschaffenheit und Eigenschaften. Die Werke in der Ausstellung ANALOG TOTAL verdeutlichen beispielhaft, wie sich Künstler*innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem fotografischen Material auseinandersetzen und sich dabei frei von technischen Konventionen machen. Taiyo Onorato und Nico Krebs bearbeiten ihre Negative in ihrer Werkgruppe Future Memories physisch mit einem Laser, zerschneiden sie und setzen diese neu zusammen. Eun Sun Cho, Ria Wank und René Schäffer provozieren bildnerische Reaktionen des Fotopapiers, indem sie es vor der Entwicklung gezielt Fotochemikalien, fachfremden Chemikalien oder Pilzen aussetzen. Helena Petersen belichtet Fotomaterial durch die Explosion beim Auslösen eines Schusses. Andere Künstler*innen greifen auf historische Verfahren aus der Entwicklungsphase der Fotografie im 19. Jahrhunderts zurück. Diese Techniken sind offener für experimentelle Eingriffe als spätere, stark standardisierte Verfahren wie etwa die Kleinbildfotografie mit Negativfilm. Die Offenheit der historischen Techniken ermöglicht eine Transformation der fotografischen Parameter und zugleich deren Befragung. Wie variabel Fotopapier auf natürliches und künstliches Licht reagiert, untersuchen Jana Dillo, Tine Edel, Harald Mairböck und Günter Derleth mit ihren Direktbelichtungen, die auf die Frühform der fotografischen Aufzeichnung auf Negativen aus Papier verweisen. Ute Lindner verwendet das Verfahren der Cynotypie und belichtet statt Papier Stoffbahnen. Claus Stolz knüpft mit seinen Heliographien an die Technik des ersten fotografisch fixierten Bildes von Niécephore Niépce aus dem Jahr 1826 an. Er lässt das Licht jedoch so lange auf das Fotomaterial einwirken bis sich der Träger auflöst. Die nie abgeschlossene Reaktion des Fotomaterials auf Licht, die irgendwann zum Verschwinden des Motivs führt, thematisiert Silvia Ballhause, wenn sie die Korrosion des berühmten Münchner Daguerreotypie-Triptichons als eigenes Bildmotiv sichtbar macht.

Die Verbreitung der digitalen Fotografie hat nicht nur zu einer Verdrängung analoger Techniken geführt, sondern auch zu deren Neubetrachtung und einem veränderten Einsatz des Materials. Wenn die Arbeit mit dem analogen Material produktiv ist, können Bildaussagen getroffen werden, die so in rein digitaler Arbeitsweise nicht möglich sind. Dadurch vergrößert sich der Unterschied zwischen digitalen und analogen Arbeitsweisen und es wird fraglich, wie lange der Begriff Fotografie für beides noch anwendbar bleibt. Bereits in den 1990ern wurde gemutmaßt, dass die Bezeichnung Fotografie für digitale Bilder nicht zutreffen kann, weil sie kein Abdruck der Realität sind.8 Jedoch beginnt erst jetzt eine differenzierte Nutzung der jeweiligen Möglichkeiten. Genau diese stärkere Ausdifferenzierung zwischen analogen und digitalen Arbeitsweisen ist eine Chance, neue Bildtypen zu entwickeln, statt nostalgisch einer untergehenden Fotografietradition nachzutrauern. Die Antworten auf die Fragen, was etwas zu einem Bild macht und wie es um das Verhältnis zwischen Fotografie und Welt steht, können so weitaus vielschichtiger beantwortet werden.

1   Vgl. André Gunthert: Das geteilte Bild. Essays zur digitalen Fotografie, Konstanz 2019.

2   Die zunächst eingesetzten Fotoemulsionen reagierten unterschiedlich auf kurz- und langwellige Anteile des Lichtspektrums, was als eine unnatürliche Umsetzung von Farben empfunden wurde, etwa erschien ein dunkelblauer Himmel im Foto hellgrau und goldblondes Haar als mattes Schwarz usw. In den ersten Negativen aus Papier verloren sich die Details der Aufnahme. Anschließend genutzte Glasnegative ermöglichten zwar mehr Schärfe, waren aber schwieriger in der Nutzung. Vgl. Jan van Brevern: Die Wissenschaft vom Verzicht. Farbenlehren der Schwarz-Weiß-Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Bildwelten des Wissens, Bd. 8,2: Graustufen, hrsg. von Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner, Berlin 2011, S. 54-64.

3   Vgl. Mirjam Brusius: Unschärfe als frühe Fotokritik: Julia Margaret Camerons Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Ingeborg Reichle, Steffen Siegel (Hrsg.): Maßlose Bilder: visuelle Ästhetik der Transgression. München, S. 341-358.

4   Lászlo Moholy-Nagy: Fotografie ist Lichtgestaltung, in: Bauhaus Zeitschrift für Bau und Gestaltung, 1/1928, S. 2-9, hier S. 5.

5   Mit dem „Fenster in Gras“ verweist Mulas auf das erste, fotografisch fixierte Bild von Nicéphore Nièpce, der 1826 den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers aufgenommen hatte.

6   William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, Mass., 1992.

7   Vgl. u. a. Das Ende der Fotografie. Der Gebrauch der Fotografie II, Kunstforum International, Nr. 172, 2004.

8   Florian Rötzer: Betrifft: Fotografie, in: Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie, München, 1996, S. 13–25, hier S. 24.

Publikationsort
Grassi Museum für angewandte Kunst (Hg.): Analog Total. Fotografie heute, 2021, S. 12-21.