Christin Müller
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Rezension: Wiedersehen und Neu sehen

Andreas Gursky im Museum der bildenden Künste, Leipzig

Mit Andreas Gursky lässt sich eine Vielzahl der wichtigsten Protagonisten und Themen der jüngeren Geschichte des Mediums Fotografie in Verbindung bringen. 1977 nahm er ein Studium bei Michael Schmidt an der Folkwangschule in Essen auf, wechselte 1980 nach Düsseldorf zu Bernd Becher, dem ersten Fotoprofessor an einer Westdeutschen Kunstakademie, und unterrichte dort schließlich von 2010 bis 2018 selbst. Gursky emanzipierte sich nicht nur von der Werbefotografie (seines Vaters Willy und Großvaters Hans Gursky), sondern vom kleinen Schwarz-Weiß der Bechers. Wie einige seiner Kommilitonen folgte er der New-Color-Bewegung aus den USA, entschied sich für großformatige Diasec-Prints und trug so dazu bei, dass die Fotografie in den 1980er Jahren in den Museen und auf dem Kunstmarkt ankam. 2011 wurde sein Bild Rhein II bei Christie's in New York für einen Rekordpreis von 4,3 Millionen Dollar als bisher teuerste Fotografie verkauft. Seit 1991 nutzt er die Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion und ist mit seinen Remaster-Abzügen Teil der Diskussion um Neuinterpretationen und -abzüge älterer Arbeiten. Zudem engagiert er sich in der Debatte um das Bundesinstitut für Fotografie für den Standort Düsseldorf.

Dieser Schnellabriss ist unbestreitbar beeindruckend und dennoch reagiert die Fotoszene eher mit einem müden Lächeln, wenn eine Ausstellung des Künstlers angekündigt wird. Es schleicht sich schnell das Gefühl ein, alles schon mal irgendwo gesehen zu haben. Der Künstler trägt dazu selbst bei. In seine großen Einzelschauen zeigt er seit Jahren Variationen über sein eigenes Werk. Es kommen jeweils ein paar neue Arbeiten hinzu, ein paar ältere fallen raus. So ist es auch in Leipzig. Bei meinem ersten Ausstellungsbesuch geht es mir wie vermutlich einigen Kollegen, mit raschem Schritt husche ich an einem Bild nach dem anderen vorbei und denke, Gursky in Leipzig: abgehakt. 

Ganz anders verhalten sich die Medien und das Publikum. Was Ulf Erdmann Ziegler im April 2007 in der Photonews beschrieb, gilt genauso 2021: „Atelier Gursky (weil es möglich ist)“. Auch 2021 stößt Gursky in den überregionalen Medien auf Begeisterung. Die Frankfurter Rundschau bejubelt die Ausstellung etwa als „ikonisch“ (31.3.21), die FAZ als „konfektioniert und perfektioniert“ (8.4.21), der Spiegel sieht „kolossale Wahrheiten“ (25.3.21) und das ZDF bezeichnet die Schau als „Paukenschlag“ (25.3.21). Die regionale Presse berichtet ähnlich erfreut, vermutlich ganz besonders aufgrund des biografische Bezugs des Künstlers. Gursky wurde in Leipzig geboren, sein Vater und Großvater führten in Leipzig bzw. im Vorort Taucha erfolgreiche Fotostudios. Das Publikum kommt trotz Corona-Kompliziertheit zahlreich ins Museum, verweilt schauend und diskutierend – und ich frage mich wie Ziegler 2007, warum das mit Gursky so funktioniert. 

Mit dem Auftrag zur Rezension besuche ich Ausstellung ein zweites Mal. Diesmal mit drei Fachfremden Freunden. Ich passe mich ihrem Tempo an, beobachte, was sie anzieht und was sie kalt lässt. Gemeinsam durchschreiten wir die 1500 Quadratmeter der Ausstellung, schauen gemächlich die rund 60 Werke Gurskys aus 35 Jahren an. Während meine Begleiter die knappe Einführung lesen blicke ich auf das daneben hängende Bild Ohne Titel XVII (2014). Es zeigt Ohne Titel II (1993) auf einer Katalogseite, fotografiert von schräg oben. Vielleicht ist das ein Hinweis an Besucher wie mich, das Bekannte aus anderer Perspektive zu betrachten.

Die großformatigen Werke Gurskys vertragen sich hervorragend mit der großzügigen Architektur des Leipziger Museums. Wie in vorherigen Ausstellungen Gurskys hängen die Bilder in Leipzig nicht chronologisch, sondern stehen in visuellem oder inhaltlichen Bezug zueinander. Im großen Hauptraum geht es um Welt und Weltpolitik. Wir bleiben an der Anzeigetafel von Frankfurt (2007) hängen, diskutieren über die Zuordnung von Inseln und Ländern in Ocean II (2010), blicken in die vielen Gesichter der choreografierten Mädchen in Pyongyang I (2007), bei Hong Kong Shanghai Bank II (2020) auf die Regenschirme Protestbewegung, in einen goldglänzenden Tanker von Katar (2012), einer Auftragsarbeit des Königshauses des Golfstaats, und auf die Rücken der vier letzten Bundeskanzler in Rückblick (2011). Neben den Politikern hängt mit Apple (2020) eine Ansicht der Firmenzentrale in Cupertino. Gursky betont gern, dass er die Interpretation seiner Werke den Betrachtern überlässt, bei seinen Installation entscheidet er sich an einigen Stellen für suggestive Kombinationen. 

In den Seitenkabinetten hängen u.a. Bilder, die Gursky mit dem Handy aufgenommen hat. Im ZDF-Interview erzählt er, dass er diese Art des Fotografierens „wohltuend“ findet, „weil es da anknüpft, wo ich begonnen habe“. Obwohl wir vorher angeregt über vielen kleinen Szenerien in Chicago Board of Trade II (1999) und F1 Boxenstopp I (2007) spekuliert haben, gefallen einer von meinen Begleitern die Handyfotos am besten, anders als die ultrascharfen, detailreichen Großformate geben die nicht alles preis. Für mich funktionieren sie eher im Gegenüber – das Porträt von Gurskys Partnerin mit Kind, A und E (2019), setzt dem anonymen Vorbeirauschen des Lebens in Tokyo und Utah (beide 2017) einen privaten Augenblick entgegen. Das Diptychon Königsbergerstrasse (2020) zeigt eine Person mit Karton auf dem Kopf, die Holzklötzern einen kunstvollen, zum Einsturz verurteilten Turm baut – möglicherweise ein Verweis auf die Konstruktion und Fragilität der dicht komponierten großformatigen Werke. Ohne Titel XXIII (2020) ist das unklarste Bild (ebenso ein Handyfoto). Es zeigt eine Kiste in malerischer Manier und lädt dazu ein, das visuelle Vakuum mit eigenen Fiktionen zu füllen – und gleiches bei den Superheldengeschichten von SH I und SH IV (2014) gegenüber zu tun.

Durch die Seitenkabinette mäandern Vitrinen mit Katalogen und Einladungskarten. Am spannendsten sind zwei, die Originalabzüge von Gurskys Vater und Großvater versammeln. Hier wird nicht nur die Fotografengeschichte der Familie sichtbar, es scheint plötzlich eine andere Materialität auf. Das ist beim Betrachten wohltuend, denn Andreas Gurskys Werke sind alle wie aus einem Guss. Ihr Zustand verrät wenig über ihr Alter – trotz der Entstehungsspanne von 35 Jahren. Das verwundert umso mehr, weil genau diese Zeit eine der größten Umbrüche der fotografischen Technik und Darstellungskonventionen darstellt. Die Ausstellung ist aus fotohistorischer Sicht vielleicht einfach zu perfekt. Ich wünsche mir mehr Störungen und Mut zum Experiment (etwa wie im parallel zur Ausstellung erschienen Künstlerbuch – 2020. Andreas Gursky).

In der Photonews vom Juli/August 1998 schreibt Anna Gripp in ihrer Rezension von Gurskys Wolfsburger Ausstellung: „Kunstbetrachter, die ihr Auge vorzugsweise auf Malerei richten […], konnten sich bei seinen Bildern stets aufgehoben fühlen“. Heute, wo die fotografischen Bilder eine Existenz in vernetzter Form führen und immer schneller an uns vorbeirauschen, haben die großen Einzelbilder von Gursky fast eine beruhigende Wirkung. Es funktioniert, wenn man als Betrachter bereitwillig in den Tiefen der Bilder versinkt und sich in den Details verliert, zu denen beeindruckenderweise immer noch jeder irgendwo Anschluss findet. 
 

Publikationsort
Photonews, Hamburg 2021, Nr. 7-8/20, S. 6
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