Christin Müller
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"Unwiderstehliche historische Strömung". Katharina Sieverding im Gespräch mit Christin Müller

Katharina Sieverding vertritt eine der international markantesten künstlerischen Positionen. In ihrem Werk beschäftigt sie sich mit Fragen menschlicher Existenz – mit Identität, zwischenmenschlichen Beziehungen, sozialer und politischer Verantwortung. Sie hinterfragt den Zustand von Individuum, Gesellschaft und Weltgeschehen in Serien monumentaler Bilder und experimentiert multimedial im Zusammenspiel mit ihren künstlerischen Fragestellungen. Rudolf Schmitz beschreibt Katharina Sieverdings Werke in seinem Text zum Deutschen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig von 1997 als »Bilder, die die Krise des Visuellen verschärfen, weil sie den Betrachter an eine informelle Grenzlinie führen, an der das Welt- und Bildgeschehen im Wirbel der Farbpigmente versinkt«. Mit beeindruckender Energie und Empathie hat Katharina Sieverding über fünf Jahrzehnte in ihrer künstlerischen Tätigkeit eine eigene Bildsprache etabliert.

Christin Müller: Mit der Fotografie haben Sie während Ihrer Zeit an der Akademie in den späten 1960er Jahren begonnen.

Katharina Sieverding: Die erste wirklich dokumentarisch-künstlerische Arbeit ist »EIGENBEWEGUNG, 1967–1969«. Anlass waren die Schließung der Akademie und der Beuys-Klasse, das Berufsverbot von Beuys und die Auflösung der »Lidl-Akademie« von Jörg Immendorff, der es um eine »erweiterte Lehre« im gängigen Akademiebetrieb ging. Meine Fotos wurden selbst Teil der Ereignisse. Ich habe etwas festgehalten, was wir als Studierende überhaupt nicht fassen konnten: dass ein so bedeutender Künstler und Lehrer wie Joseph Beuys nach neun Jahren Lehre wegen seines »hemmungslosen« Einsatzes für mehr Studienplätze nicht mehr unterrichten konnte. Das alles habe ich mit einer geliehenen »Edixa« Schachtsucher-Kamera aufgenommen, einem Apparat, in den man beim Fotografieren von oben in den Lichtschacht reingucken muss und das gesamte Bild wie auf einem Screen kontrolliert. Es war eine erste fotografische Arbeit, die Sinn ergab und die für mich zu einem Beleg für den »Erweiterten Kunstbegriff« wurde. Das war eine entscheidende Erfahrung.

Schon mit diesen ersten Fotografien der Serie »Eigenbewegung« setzt Katharina Sieverding die Wirkmacht des Mediums als Kommunikationsinstrument ein. Tagsüber fotografierte sie die Ereignisse um die Düsseldorfer Kunstakademie, nachts entwickelte sie die Bilder und klebte ihre Aufnahmen anschließend – als ihren Beitrag und Wandzeitung für Interessierte, die an diesen Ereignissen nicht teilnehmen konnten – an die Außenwände der Kunstakademie Düsseldorf. Bis heute zeigt sie ihre Bilder auch im Stadtraum. So hat Katharina Sieverding 2019 den 200 m langen und 4 m hohen Bilderfries »GLOBAL DESIRE BAHNHOFSVIERTEL DÜSSELDORF« an der Fassade des Interim-Spielortes des Schauspielhauses installiert.

K.S.: Für mich war es damals so: Wenn man eine Kamera in die Hand nimmt, wird man sozusagen zum Beobachter, zum Zeitzeugen. Man nimmt die Kamera eigentlich nur deswegen in die Hand, weil man berichten will, was tatsächlich passiert. Dass diese Bilder später eine wichtige künstlerische Arbeit werden würden, wusste ich in diesem Moment nicht. Ich merkte allerdings, dass die Fotografie etwas für mich ist und Beuys sagte dann zu mir: »Katharina, einer muss es ja machen.« Seitdem habe ich immer eine Kamera dabei. Digital ist das Fotografieren mittlerweile ja viel unauffälliger möglich. Aber ich fotografiere noch immer analog und in Schwarz-Weiß. Ich habe diese Technik beibehalten und kommuniziere darüber mit Menschen, die dann auch wissen, dass ich das mache. Man trifft darüber eine Vereinbarung.

C.M.: Sie fotografieren also nicht einfach still und heimlich...

K.S.: Nein. Ich bin nie davon ausgegangen, dass es ein Abbild der Wirklichkeit ist, wenn ich ein Foto schieße. Das muss ich erst daraus machen...

C.M.: Können Sie sagen, was Ihre Vorstellung von Fotografie war und ist?

K.S.: Es ist für mich ein Medium, in dem ich Dokumente durch die Montage mehrerer Belichtungen und Bildebenen zu einem künstlerischen Statement konzentriere – über den Zeitraum und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zeit, in der ich als Künstlerin lebe.

C.M.: Man hat als Betrachterin oder Betrachter vielleicht einen direkteren Bezug zum Dargestellten, wenn man auf ein Foto schaut. In der Fotografie scheint eine andere Art von Gegenwart möglich zu sein als in der Malerei, deren Herstellungsprozess ein ganz anderer ist und zu der die meisten Betrachter vermutlich eine größere Distanz haben.

K.S.: Ja, das ist ein Unterschied … Ich brauche tatsächlich dieses zu »belichtende« Material, das Außen und den Moment, in dem ich den Auslöser betätige. Das ist ein Prozess großer Konzentration, von These, Antithese und Synthese – und dann kann man das Ganze noch erweitern und mit dem Bild in die Größe gehen, um einen »Lifesize«-Bildraum zu ermöglichen. Seit 1970 hatte ich die Vorstellung von großen Bildräumen und begann zu experimentieren, indem ich Farbdias mit einem Karussell-Projektor in den Raum projizierte und so die Größen austarierte. Ich dachte mir, wenn es um weltpolitische Inhalte geht, muss sich das Format vervielfachen. Es muss mindestens mit dem der »Pop Art« mithalten können. Vieles, was ich in der Kunstgeschichte toll fand, hatte ein ziemlich großes Format. Insgesamt bin ich eher von der Kinofilmprojektion ausgegangen.

C.M.: Dann kam der Einfluss stärker aus dem Kino?

K.S.: Im Kino ist die Suggestion groß, einfach dadurch, dass der Raum durch das Format inhaltlich derart bestimmt wird. Ich stellte mir Bilder vor, die die Lebensgröße eines Menschen haben. Es ist eine gute Größe, denn so stehe ich mit meinem ganzen Körper davor und kann quasi in den Bildraum hineingehen.

C.M.: Ihr Werk durchziehen Selbstporträts. Alle verbindet, dass es keine klassischen Selbstporträts sind. Vielmehr ermöglichen die Bilder Reflexionen über Identität, Geschlecht und Zugehörigkeit.

K.S.: Abbild und Erkennbarkeit interessierten mich nicht, sondern eine Porträtqualität, die aus einer bestimmten Zeit kommt. So habe ich in Passbildautomaten Selbstporträts gemacht und mit Ausdrucksmöglichkeiten experimentiert – eine »Kunstproduktion« mit Instant-Technik. Und bei den goldenen Porträts war es so, dass ich tatsächlich genau so im Nachtclub aufgetreten bin. Manchmal bin ich nach Hause gekommen, als das Gold schon oxidiert war. Davon gibt es umfangreiche Polaroid-Serien.

C.M.: In den Bildern löst sich Ihr Gesicht von eindeutigen Zuschreibungen. Was geschieht in diesem Prozess der Verunklärung?

K.S.: Durch Transformationsprozesse wie Solarisation, Montage, Schichtung usw. wird die Tatsächlichkeit eines gewissen Realitäts- oder Wahrheitsgehaltes erweitert. Durch dieses Nichterkennen und dadurch, dass ich mich in den Bildern der Zuschreibung zu einem bestimmten Moment entziehe, werden die Porträts zu einer langfristigeren Beobachtung. Man denkt also anders darüber nach, was ein Porträt eigentlich ist. Es repräsentiert nicht zwingend jemanden und zeigt auch nicht nur den Status oder die Profession einer Person auf.

Die Porträts von Katharina Sieverding stellen den Begriff des Selbstporträts auf den Prüfstand. Ihre Bilder sind keine Selbstdarstellungen, sondern eher fotografische Befragungen und Erkundungen des Selbst in einem bestimmten Moment und Zustand. Mit dem Verschwimmen einer eindeutigen Zuschreibung spielt auch die Arbeit »TRANSFORMER 1 A/B« von 1973–1974 (Abb. xx). Ausgangsmaterial waren gemeinsame »en-face«-Porträts von Katharina Sieverding und Klaus Mettig, die als Diapositive übereinandergeschichtet wurden. In der Überlagerung verbinden sich die Gesichter zu einem einzigen und die Abgrenzung von »weiblich« und »männlich« gerät ins Wanken. Die symbiotische Zusammenarbeit der beiden Künstler wird konkret sichtbar. Es war ein früher Beitrag zur Genderfrage und auch ein Verweis darauf, dass jedem von uns Elemente beider Geschlechter innewohnen.

C.M.: Ist es wichtig, dass Sie sich selbst für die Porträts fotografieren und warum?

K.S.: Experimente mit dem Selbst kann man eigentlich auch nur selber verkörpern. Die Eroberung des anderen Geschlechts findet in einem selbst statt...

C.M.: Sie zeigen nicht wenige Porträts in einer Spiegelung. Was bezwecken Sie damit?

K.S.: Diese Spiegelungsidee hat für mich ziemlich viel mit dem Fotografischen und dessen Möglichkeiten zu tun. Foto-Negative kann man bei der Belichtung umdrehen, dann erscheint das Fotografierte seitenverkehrt. Und manchmal ist man ja auch ein Doppelgänger seiner selbst. Das ist nicht immer so eindeutig, sondern es gibt auch ein Du in einem. Man kann sich mit sich im Du befinden.

C.M.: Wie kommt es, dass der Film mit den Sonnenaufnahmen »DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN. SDO/NASA (BLUE), 2010–2015« den gleichen Titel trägt wie die Gold-Porträts?

K.S.: »Die Sonne um Mitternacht schauen« – da fragt man sich natürlich erstmal, was das bedeuten soll. Die Erklärung dazu ist, dass man die Sonne durch die Erde hindurch imaginiert. Das Video ist für mich auch ein Porträt der Sonne – das hat für mich alles einen Bezug, wenn man darüber nachdenkt, was die Ausbeutung der Erde bedeutet, der Verlust der Ressourcen und der Klimawandel.

Während Katharina Sieverding mit ihren Porträts die »Optik« zunächst auf sich selbst richtete, wechselt sie in den 1980er und 1990er Jahren radikal die Perspektive: Nun rückt das von der Künstlerin Erlebte, Beobachtete und Interpretierte mehr und mehr in den Fokus ihres künstlerischen Schaffens. Katharina Sieverding arbeitet mit »Found Footage«, also gefundenem Material, und entwickelt komplexe Schichtungen von Bild- und Textebenen und deren Bedeutungen. Diese zwei großen Strömungen ihrer Werkgenese treffen in »WELTLINIE. DER SINN EINER WAHRHEITSFUNKTION, 1999« aufeinander.

C.M.: Sie verwenden in einigen Bildern Textfragmente. Wie kommt es, dass bei »WELTLINIE. DER SINN EINER WAHRHEITSFUNKTION, 1999« der Text auf Japanisch gesetzt ist?

K.S.: Ich lebe in der Stadt mit der größten japanischen Community in Deutschland. Also dachte ich mir, auch die können sich damit befassen. Meine Arbeit muss ja nicht wie bei »DEUTSCHLAND WIRD DEUTSCHER, 1992« immer nur unmittelbar die Deutschen ansprechen. In »WELTLINIE. DER SINN EINER WAHRHEITSFUNKTION, 1999« verwende ich ein Bild, das sich auf den Kosovo und den Balkankrieg bezieht. Ich habe es aus einem Fernsehbericht reproduziert. Zugleich, auf einer zweiten Bildebene, beobachte ich das Geschehen – die Flüchtlingsströme – als »NACHTMENSCH«. Das wiederum ist ein Bild aus dem gleichnamigen umfangreichen Werkblock von 1982. Der japanische Text – ein Wittgenstein-Zitat – lautet auf Deutsch: »Der Sinn einer Wahrheitsfunktion«.

Katharina Sieverding wurde von Gudrun Inboden, Kuratorin des Deutschen Pavillons der Biennale von Venedig 1997, eingeladen, zusammen mit Gerhard Merz den Deutschen Pavillon zu bespielen. Ihre dort gezeigte Werkgruppe der »Steigbilder I–IX, 1997« basiert auf einer persönlichen Erfahrung: Die Künstlerin hatte zunächst den Sterbeprozess ihres Vaters begleitet, kurz danach den ihrer Mutter und wurde anschließend selbst krank. In diesem Zusammenhang begann sie, sich mit alternativen Diagnostiken und Heilmethoden auseinanderzusetzen. Für ihren Beitrag zum Pavillon hat sie medizinische Bilder mit journalistischen Bildern zum damaligen Weltgeschehen verknüpft.

C.M.: In einem Text über die Arbeiten beschreiben Sie die Steigbildsignatur als »eine bildschaffende Methode der schaffenden Bildekräfte«. Meinen Bildekräfte also die Kraft von Bildern?

K.S.: Bildkräfte ist nur visuell, »Bildekräfte« bezieht sich auf die Energieflüsse im menschlichen Organismus von der Geburt bis zum Tod. In meiner Serie »Steigbilder« werden radiologische Schädelaufnahmen mit Bildern der Steigbildmethode überlagert (Abb. xx). Steigbilder sind so etwas wie Ablagerungsbilder organischer Flüssigkeiten wie Blut, die eine Metallsalzlösung ›durchsteigen‹, so dass hier auf- und abbauende Kräfte aufeinanderstoßen und miteinander konkurrieren. Dadurch entsteht die Steigbildsignatur. Während Röntgenbilder statische Aufnahmen liefern, zeigen die Steigbilder Wachstum und Strömungen im Körper, die weitere Rückschlüsse auf den Zustand des Organismus zulassen. »Bildekräfte« beschreibt also, dass etwas weiterhin in Bildung begriffen ist und sich eben nicht in einer visuellen Abbildung erschöpft. Steigbildbefunde sind gesamtheitlich, sie reichen bis in mentale Zusammenhänge. Der Begriff der »Bildekräfte« ist also letztlich ein Synonym für die Dynamik des Werdens und Vergehens.

C.M.: Was hat Sie im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung beschäftigt, mit der sie damals konfrontiert waren?

K.S.: Die Erkrankung und der Tod meiner Eltern sind mir wahrscheinlich so nahegegangen, dass ich selbst krank wurde. Ich bekam Transfusionen. Daraufhin habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie ich dieses fremde Blut individualisiere. So bin ich dann in das ganze Thema der Steigbildmethode mehr und mehr eingestiegen.

C.M.: Das persönliche Erleben hat Sie so stark geprägt, dass es zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit medizinischen Bildern kommen musste?

K.S.: Ich fand es wichtig, weil diese alternativmedizinischen Methoden tatsächlich stark über das Visuelle funktionieren, es also bei den Signaturlinien auch um eine Bildästhetik geht. Das ist auch in der Schulmedizin der Fall. Dadurch, dass mein Vater Radiologe war, kannte ich das. Er erzählte manchmal von seinen »Fällen«, darüber, was er radiologisch untersucht hat, und sprach über die Befunde der »unter Tage arbeitenden Bergleute«. Mich hat das beschäftigt. Daher war es spannend, auch einmal die alternativmedizinische Diagnostik kennenzulernen, die anders funktioniert. In den »Steigbildern« habe ich beide Methoden zusammengebracht. Jede Kunst entsteht aus einem gewissen Erlebnis. Dass die Erfahrung in dieser Weise bildhaft werden kann, war für mich unglaublich wichtig. Das Projekt »Steigbilder« habe ich bewusst für den Deutschen Pavillon ausgesucht und weiterentwickelt. Der Ort hat es in sich – auch aufgrund der nationalsozialistischen Intervention ist die Beteiligung abzuwägen und man muss gut überlegen, was man als Künstlerin oder Künstler vertritt. Immerhin kommen viele Besucher aus unterschiedlichsten Kulturen und politischen Systemen zur Kunstbiennale nach Venedig, und die wollte ich mit solchen Zusammenhängen bekannt machen.

Die Lehre und insbesondere die Diskussion mit den Studierenden war Katharina Sieverding immer wichtig. Von 1992 bis 2007 unterrichtete sie an der Universität der Künste (UdK) in Berlin, lehrte zwischen 1995 und 2007 insgesamt 19 Sommer in der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg und hatte zahlreiche weitere Gastprofessuren in Deutschland, Osteuropa, China und den USA inne.

C.M.: Was wollten Sie den Studierenden in Ihrer Lehre mitgeben?

K.S.: Das Allerwichtigste war, zunächst eine gemeinsame Konzentration für die entstandenen Arbeiten zu schaffen. So habe ich Arbeitsbesprechungen immer gemacht, wenn die ganze Klasse anwesend war. Es gab selten Einzelbesprechungen. Und dann war mir wichtig, dass die Studierenden reden und zuhören lernen in dieser Zeitgenossenschaft, in der sie als Menschen, die miteinander studieren, auch miteinander zu tun haben. Wir haben intensiv und kritisch über die Arbeiten gesprochen. Sie haben alles ausgebreitet, präsentiert und selbst erörtert. Außerdem hatten wir viele Gäste aus der ganzen Welt. Dadurch hatte jeder die Möglichkeit, sich zu überlegen, was er oder sie für einen Beitrag leisten möchte, was für die Kunst heutzutage wichtig ist und was für ein Beruf »Kunst« eigentlich ist.

C.M.: An der UdK Berlin haben Sie den Lehrstuhl für »Visual Culture« gegründet. Wie ist es zu diesem Namen gekommen?

K.S.: Der Begriff »Visual Culture Studies« kam Mitte der 1990er Jahre auf. Der Name passte dazu, dass ich den Lehrstuhl nie alleine betreut habe, sondern im Team. Ich war bemüht, die Lehre kuratorisch und theoretisch zu erweitern. Und ich habe überhaupt erst mal Fach-Fotolabore in der UdK eingerichtet, was wegen der notwendigen Ökonomien zu einem Aufschrei in anderen Fakultäten führte. Ich selbst bin an diese Diskussionen eher locker rangegangen und habe letztlich einiges durchgefochten.

Wie in ihrer Lehre entfacht Katharina Sieverding auch mit ihren Arbeiten regelmäßig Diskussionen. Vielschichtige Debatten löst sie insbesondere mit jenen Werken aus, bei denen die Künstlerin eigene Fotografien mit journalistischen Bildern und Pressefotos verzahnt. In der Verbindung der Bilder entsteht, wie es Simone Reeb 2017 im Berliner »Tagesspiegel« treffend beschrieb, eine »Reibungsenergie, die über Jahre nachglüht«. Durch diese Reibung provozieren die Bilder eine Reaktion bei den Betrachterinnen und Betrachtern.

C.M.: Wie kamen Sie dazu, mit dem Ineinandergreifen der Bilder zu arbeiten und was interessiert Sie daran?

K.S.: Es ist so, dass mich Fotografien als Einzelbilder nicht so sehr faszinieren. Ich bin immun gegen den Anspruch der Autorenfotografie oder die Einstellung, ausschließlich Bilder zu benutzen, die ich selbst gemacht habe. Wenn ich etwas fotografiere, erkenne ich dahinter weitere Ebenen, zum Beispiel die historische Ebene des Nationalsozialismus. Auf diese Weise verknüpfe ich diese Bildschichten und schaffe neue visuelle und inhaltliche Zuspitzungen. Bei »ENCODE VII, 2006« etwa gibt es einen Bezug zum Holocaust, konkret zum Konzentrationslager Sachsenhausen. Bei dieser Arbeit empfinde ich die Linearität als verbindendes Element interessant, das heißt die Frage, auf welche Weise Linearität in der Struktur des Holocaust Memorial in Berlin steckt und wie sich die Nationalsozialisten diese Linearität der Überwachungsstruktur zunutze gemacht haben. In den Konzentrationslagern gab es immer ein Zentrum, von dem aus man jede Gasse kontrollieren konnte.

Ein anderes Beispiel ist »O.T. II/2019 (SACHSENHAUSEN), 2019« (Abb. xx). Ich war 2019 oben auf dem Reichstagsgebäude. Während ich die Kuppel fotografierte, hatte ich das Bild von einem Konzentrationslager vor meinem inneren Auge. Das motivierte mich dazu, weiter zu fotografieren, denn ich war eingeladen worden, 2019 in Dachau auszustellen. Dort wollte ich keine »L’art pour l’art« veranstalten, sondern mich damit beschäftigen, was ein Konzentrationslager eigentlich bedeutet. Dachau soll ja das Modell für das ganze KZ-System gewesen sein.

In den Werkgruppen »Global Desire«, »Kontinentalkern« und »Steigbild« verbinden sich gleiche Farben in der Schichtung von verschiedenen Einzelbildern, wodurch die einzelnen Bildelemente eng miteinander verwoben werden. In »Encode« und »Weltlinie« sind es Bildfragmente, die die Künstlerin neu zusammenführt, wodurch Kontraste und Begegnungen zwischen Personen und Orten entstehen. Darüber hinaus setzt sie Effekte ein, die so nur mithilfe von fotografischen Techniken erreicht werden können: etwa indem Negative und Diapositive übereinandergelegt werden, und der Solarisation, einer Verfremdung des fotografischen Bildes durch eine kurze zweite Belichtung des Fotopapiers nach dem Entwicklerbad und vor dem Fixieren.

C.M.: Welche Bilder beschäftigen Sie im Moment?

K.S.: KI, Künstliche Intelligenz. Was mich daran interessiert, ist einfach, was für einen Einfluss die »KI« auf den Kunstbegriff hat. Es gibt schon Kunst dazu, aber meines Erachtens zu unkritisch. Was mich grundsätzlich beschäftigt, ist die Frage, was die Technologisierung für unsere Zukunft und in Bezug auf die Kunst bedeutet. Läuft die Kunst Gefahr, missbraucht zu werden? Und wie könnte ein kritisches künstlerisches Statement zu diesem Thema aussehen? Nicht ganz einfach.

Das Interview basiert auf zwei umfangreichen Gesprächen, die am 10. Oktober und 12. November 2019 in dem Atelier von Katharina Sieverding in Düsseldorf geführt wurden. Der hier abgedruckte Test ist eine gekürzte Fassung; das vollständige Interview ist nachzulesen in: KATHARINA SIEVERDING. UNWIDERSTEHLICHE HISTORISCHE STRÖMUNG. Broschüre anlässlich der Ausstellung vom 14.02.–06.06.2020 in der DZ BANK Kunstsammlung, S. 16–37.

Publikationsort
Kathrin Tomschke & Christina Leber (Hg.): Licht ins Dunkel. Wohin entwickelt sich die künstlerische Fotografie?, Frankfurt am Main 2022, S. 66-77.
Links (extern)
Kunststiftung DZ Bank